Krieg!
Ich weiß nicht, ob es gespiegeltes oder wahres Erleben ist. Die Sonne geht unter und ich betrachte den sterbenden Tag.
Ich fühle, bald wird wieder ein Krieg kommen. Vom Beruf bin ich Polizeifotograf. Ich bin zwar blind, aber trotzdem übe ich den Beruf des Polizei-Fotografen aus. Tagtäglich fotografiere ich mit meinen blinden
Augen Tote - Ermordete, Erhängte, Verkehrsopfer, Vergiftete, Erschlagene, Verprügelte - Leichen aller Art. Ich halte den Zustand des Todes mit meiner Kamera fest, Momente nach dem Sein, Momente vor der Verwesung. Meine Arbeit ist für die Ermittlung und für die Dokumentation äußerst wichtig.
Eigentlich wollte ich Fotograf werden, der die ästhetische Seite des Lebens ablichtet. Doch in einer Zeit, die kurz vor dem Krieg steht, wehrt sich die Ästhetik, dargestellt zu werden. Ganz davon abgesehen, daß ich zudem blind bin. Das mit dem Blindsein verhält sich so - meine Augen haben sich in meinen Kopf gedreht. Sie blicken in mein Inneres, das Äußere ist außerhalb des Wahrnehmbaren.
Die Toten, die ich fotografiere, sehe ich nur noch in mir selbst. Im Kopf hängt der Selbstmörder, den ich gewissenhaft mit Kamera, Stativ und Blitz ablichte. In meinem Kopf sehen meine Augen den mit Spiegelscherben Aufgeschlitzten. Dabei überschwemmt es meinen Kopf. Das auslaufende Blut frißt meine Augen. Dann entweicht es langsam durch meine Ohren, tropft zu Boden. Wenn dann der Kopf leergeschwemmt ist, die Toten durch die Ohren hinausgestoßen, dann fühle ich wieder, wie der Krieg kommt. Es kommt wieder Krieg. Das Blut hat den Boden angefeuchtet und gewissenhaft habe ich meine Aufgabe, die Toten abzulichten, erfüllt.
Gerne hätte ich die Impressionen des Lebens eingefangen, doch das Leben hat im Kopf keinen Platz. Sonnenuntergänge und Stille, eine Geliebte. Doch jetzt ist die Sonne ein blutverschmiertes Gesicht, das in das Blutbad, das in meinem Kopf brodelt, eintaucht, - das lebensfrohe Mädchen ist nur noch eine vor Verzweiflung Erhängte. Das frühere Leben, das in Erinnerungen manchmal aufblüht, war eigentlich nur eine Fiktion. Die bittere Realität ist, daß bald wieder ein Krieg kommt - diese Wirklichkeit existierte auch schon in der Fiktion, unbewußt, unerkannt.
Ich passe mich der Stimmung an, ich fotografiere schon jetzt nur noch Tote, immer nur Tote, der Umgang mit Toten ist für mich gewohnt.
Ich fühle mich in das Bild eingegossen. Ich sehe durch ein Fenster, das in einer roten, durch schlichte, geometrische Ornamente aufgelockerten Wand eingebaut ist. Wenn ich durch das geschlossene Fenster sehe, erblicke ich eine zartblaue Harmonie, - zarte weiße Wolken verzieren den Himmel, der am Horizont in ein blaues stilles Meer mündet - ein Zustand des Stillebens. Langsam trete ich an das Fenster, um es zu öffnen, um die Ruhe und Schönheit einatmen zu können. Ich trete an das Fenster, um es einen Spalt zu öffnen, jedoch verschwindet dann unversehens das Bild, das ich gerade noch durch die geschlossene Scheibe wahrgenommen habe. Schwärze bricht, hinter der geöffneten Fensterscheibe ein. Das Öffnen des Fensters ist der Weg in den Krieg. Ich sehe Schwärze, werde mir meiner Blindheit wieder bewußt. Unwiederbringlich ist die Illusion eines schönen Zustands zerplatzt. Jetzt ist für mich schon Krieg, da ich spüre, daß bald ein Krieg kommen wird.
Die Sinnfrage ist gelöst: Neulich sah ich ein modernes Theaterstück. Der Inhalt ist leicht wiederzugeben: Im Saal war es absolut dunkel. Schwärze, daß man die Hand nicht vor den eigenen Augen sah, selbst die Notausgangslichter waren erloschen. Dann plötzlich, als man sich an das Nichts gewöhnt hatte, blendete gleißend helles Licht von allen Seiten, so daß ein Aufschrei durch die Menschen zuckte. Die Hände wurden auf die Augen gepreßt. Für Sekunden waren alle blind. Als man sich jetzt an den neuen Zustand gewöhnt hatte, sah man auf der Bühne nur einen riesigen Spiegel. Das gesamte Publikum spiegelte sich in diesem Spiegel. Jeder war damit beschäftigt, sich Selbst zu finden. Nach einer Weile hofften die Menschen, daß etwas passiert. Doch durch das Bewegen und Suchen geschah unentwegt etwas, nur erkannten sie es nicht als Geschehen. Sie warteten, aber für sie geschah nichts. Eine gewisse Unruhe, Unzufriedenheit überkam die Zuschauer. Als die Unruhe größer wurde, und die Situation kurz vor der Eskalation stand, zerbrach tosend der Spiegel. Hinter dem Zerstörten war nur Leere, Schwärze und daraus ertönte eine metallische Stimme:
"Zerfetztes Fleisch,
zerflossenes Blut,
aufgerissenes Augenlid,
Körper zerballter Wut,
kläglich klingendes Lied.
Ich kann nur lachen!"
Die Kritiker zerbissen sich mit Interpretationen ihre Zungen. Das Stück hatte keinen tieferen Sinn - PROVOKATION - ESKALATION -
DESTRUKTION. Die Sinnfrage ist gelöst. Es gibt keinen - ich weiß es - ich habe ihn gesehen. PROVOKATION - ESKALATION -
DESTRUKTION. -
Ich beschließe, mich im Spiegel zu betrachten. Bewege ich mich in der Innenwelt oder in der Außenwelt? Jedenfalls sehe ich mich nicht - ich sehe mich nicht - warum? - warum? - weil die Sinnlosigkeit erkannte wurde und somit bin ich aller Sinne beraubt - alle Sinne sind tot - Sinntod - Innenwelt tot - Außenwelt tot - wo bin ich? - fühle mich beengt, - schlage um mich- Spiegel zerbrechen - esse die Scherben - Erlösung - Erlösung!
Jetzt herrscht Krieg.
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