Ullis Vater (Fragment)
Der fremde Mann, der gebeugt unter der Last eines verbogenen Fahrrades aus dem Krieg heimkehrte, war Ulrichs Vater. Ulrich erkannte ihn sofort, obwohl er den Mann während seiner fünf Lebensjahre nur zwei oder dreimal gesehen hatte. Ulrich kannte den Mann von den Soldatenfotos, die in der Küche hingen und vom Hochzeitsfoto seiner Eltern über dem Doppelbett im Schlafzimmer.
Im ersten Moment wollte Ulrich zu seiner Mutter ins Haus laufen, denn er fürchtete sich. Aber er blieb stehen, denn ein Junge lief nicht weg. Was hatte er von dem Mann zu befürchten, der langsam und müde die Dorfstraße heraufkam? Sein Vater liebte ihn. Das wusste Ulrich von seiner Mutter. Unzählige Male hatte sie ihm gesagt, dass alles gut werde, wenn Vater aus dem Krieg zurückkäme. Jeden Morgen, wenn Ulrich erwachte, jeden Abend, wenn seine Mutter ihn zu Bett brachte und mit ihm betete, jedesmal wenn sie glücklich war und jedesmal, wenn sie unglücklich war, hatte sie ihm gesagt, dass alles gut werde, wenn Vater aus dem Krieg zurückkäme, und dass er sie alle liebe, über alle Maßen liebe, ihn Ulrich, seine kleine Schwester und seine Mutter. Ulrich ging noch nicht zur Schule, aber er konnte schon bis Zwanzig zählen ohne Zuhilfenahme der Finger. Das war zwar sehr viel, aber es reichte nicht, um zu zählen, wie oft Mutter von Vater sprach und von der großen Freude für sie alle, wenn Vater endlich aus dem Krieg heimkäme.
Ulrich lief nicht weg. Sie waren ganz alleine auf der Straße an diesem friedlichen Sonntagmorgen, er, Ulrich, der zum Spielen aus dem Haus gekommen war, weil er seiner Mutter bei der Zubereitung des Mittagessens im Wege war und der Mann, der noch ungefähr hundert Meter von Ulrich entfernt war.
Ulrich konnte das müde Gesicht des Mannes erkennen, der ihn aus der großen Entfernung aufmerksam ansah, aber durch keine Geste, keine Veränderung des Gesichtsausdruckes zu verstehen gab, dass er seinerseits Ulrich erkannt hatte. War es vielleicht doch nicht sein Vater?
Der Mann trug keine Uniform, sondern einen hellen Leinenanzug, der verschmutzt und zerknittert war. Bei seinem letzten Besuch hatte Ulrichs Vater eine Uniform getragen und über der Schulter ein Gewehr. Er hatte ausgesehen wie die vielen anderen Soldaten, die durch den Ort gezogen waren und unter den Menschen Angst verbreitet hatten. Nicht bei den Kindern. Ulrich hatte sich nicht vor den Soldaten gefürchtet. Aber er hatte die Angst seiner Mutter gefühlt, die seiner Großmutter und die des alten Endrikat. Obwohl es ihm keiner ausdrücklich gesagt hatte, wusste Ulrich, dass man tun musste, was die Soldaten verlangten. Sie hatten Gewehre.
Der Mann, der langsam und gebeugt auf Ulrich zuging, trug keine Uniform. Und anstelle des Gewehrs trug er ein Fahrrad, von dem keine Bedrohung ausging. Im Gegenteil, das Fahrrad war selbst in einem hilfsbedürftigen, jämmerlichen Zustand. Die vordere Gabel und das Vorderrad waren total zerquetscht und verbogen und ragten verloren in eine völlig falsche Richtung. Und so ramponiert wie das Fahrrad sah auch der Mann aus, den Ulrich für seinen Vater gehalten hatte. Ulrich war sich seiner Sache nicht mehr sicher.
Doch als der Mann nur noch fünf, sechs Schritte von Ulrich entfernt war, verzog sich das stoppelbärtige, müde Gesicht unter feuchtglänzenden Augen zu einem Grinsen, das vielleicht ein Lächeln hatte werden sollen, und dem Gesicht etwas Grimassenhaftes, Furchteinflößendes verlieh.
Der kleine Junge lief weg. In der Sekunde, in der er sich zum Weglaufen entschlossen hatte, in die erste Fluchtbewegung hinein, sagte der Mann mit warmer, zittriger Stimme Ulrichs Namen:
"Ulli!"
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