erstellt vom schweizer Offizier Ralph Bosshard:
Nach Ausgabe der letzten Mittel und vielleicht am Vorabend weiterer Niederlagen steht Präsident Selenski vor der Frage nach der Weiterführung des Kriegs.
Mit der massiven russischen Truppenpräsenz auf ukrainischem Territorium hat der Kreml Präsident Selenski ein Problem geschaffen, das er nicht einfach so zur Seite schieben kann. An tragbaren Flieger- und Panzerfäusten kann man erfahrene Berufssoldaten rasch ausbilden, aber mit diesen Waffen lässt sich nur ein Kleinkrieg führen, der keine rasche Vertreibung eingedrungener Truppen aus dem Land zulässt. Dem Westen wäre wohl am liebsten, die Ukraine würde einen lang andauernden Kleinkrieg gegen die russischen Truppen führen, aber viele der aufwändig ausgebildeten ukrainischen Sonderoperationskräfte, die als Jagdkommandos Logistik- und Führungseinrichtungen der Russen angriffen, mussten nach erfolgreichen Schlägen ausweichen. Ein Teil davon wird dabei aufgerieben worden sein. Die Zeit der erfolgreichen hit-and-run-Aktionen könnte sich ihrem Ende zu neigen.
Wenn die ukrainische Armee die russischen Truppen vertreiben will, dann braucht sie dringend neue Munition für schwere Waffen. Solche Munition dürfte in einsatztauglichem Zustand selbst in den ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrags kaum mehr vorhanden sein. Westliche Munition kann die Mehrzahl der Waffen der ukrainischen Armee nicht verschießen. Die Ukraine brauchte aber nicht nur Munition, sondern auch mehr schwere Waffen als Ersatz für jene, die sie in den letzten Wochen verlor. Das müssten solche sein, an denen die Soldaten der UAF (Ukrainische Armee) schon ausgebildet sind, denn an Ausbildung an neuem Gerät ist bei den, unter Druck stehenden ukrainischen Verbänden wohl kaum zu denken. Darüber hinaus muss man in Kiew davon ausgehen, dass sowohl die Lieferung von Waffen und Munition, als auch die Ausbildung daran vom russischen Nachrichtendienst erkannt und unterbunden würden. Das einzige, was Selenskyj helfen würde, wäre eine direkte Intervention der NATO mit massiven Verbänden, die allerdings erst einmal über mehrere hundert km verlegt werden müssten.
Dadurch, dass sie taktische Erfolge gut verkaufte, gewann die Ukraine den Informationskrieg im Westen. Aber der richtige Krieg ist so nicht zu gewinnen.
Präsident Selenski kann den Krieg kaum noch weiterführen. Zu gering sind die Erfolgsaussichten und zu hoch die Wahrscheinlichkeit weiterer Niederlagen. Groß ist die Gefahr des Verlusts der Kontrolle über signifikante Teile des Staatsgebiets und der Bevölkerung.
Russland hat die volle Breitseite westlicher Sanktionen abbekommen und kann ungeniert weiter Krieg führen, soweit seine Kräfte reichen. Das ist der einzige Faktor, der es bremsen könnte. Innenpolitisch hat Putin offenbar wenig zu fürchten, genauso wie außenpolitisch: Wenige Länder außer den bekannten westlichen haben sich den Sanktionen gehen Russland angeschlossen.
Es ist davon auszugehen, dass Russland eine Pause in den Kampfhandlungen während ernsthafter Verhandlungen nutzen würde, um sich für die Fortführung der Operationen vorzubereiten, falls kein befriedigendes Verhandlungsergebnis zustande kommen sollte. Auch die Ukraine würde solches versuchen, muss sich aber nach erneuten Schlägen der russischen Armee gegen Infrastruktur und Depots darüber im Klaren sein, dass entsprechende Fortschritte rasch zunichte gemacht werden können.
Die Annahme noch verkraftbarer Bedingen seitens von Russland, inklusive Neutralität und Verzicht auf die Stationierung fremder Truppen im Land, ist für Selenski wohl der bessere Weg im Vergleich zum Anschluss der Ukraine an die NATO, deren politische Schwäche erneut zu Tage trat. Mittlerweile wird man sich in Kiew wohl keine Illusionen über Westeuropa mehr machen. Wenn Neutralität der Ukraine und Verzicht auf Truppenstationierung einmal garantiert sind, kann Russland der Ukraine in territorialen Fragen entgegenkommen.
Andererseits kann der Kreml die besetzten Gebiete als Faustpfand verwenden. Sollte Russland seine Truppen aber tatsächlich aus der Ukraine abziehen, wird es handfeste Garantien fordern, damit nicht feindliche militärische Kräfte an seiner Grenze aufmarschieren. Ebenso wenig wie feindliche Staaten schätzt Russland schwache Staaten an seiner Peripherie. An einer prosperierenden Ukraine hätte Moskau durchaus ein Interesse, sofern es die Sicherheitsgarantien erhält, die es fordert.
Nach acht Jahren, in denen die Ukraine, ermutigt durch die USA, die Minsker Abkommen torpedierte, wird man sich auch im Kreml dessen bewusst sein, dass eine Unterschrift Selenskis unter einen Waffenstillstandsvertrag nicht viel bedeuten muss.
Ein Regime-change in Kiew mit der Auswechslung Selenskis durch einen willfährigen Politiker hätte den Nachteil, dass der neue Präsident nicht anerkannt werden würde und dass Selenski im Ausland eine Exilregierung bilden kann, die den Kampf weiterführt.
Mit den Verhandlungen mit Russland könne es für Selenski nicht getan sein: Die Lugansker und die Donetsker Volksrepublik werden sich auf den Standpunkt stellen, dass sie jetzt anerkannte politische Gebilde seien und dass Kiew mit ihnen direkt zu verhandeln habe. Die militärischen Erfolge, die sie in den letzten Wochen erzielten, werden sie zu harten Verhandlungspartnern machen. Allenfalls möchten sich diese Gebiete der Russischen Föderation anschließen.
Im ganzen Verhandlungsprozess spielen Europa, die NATO und die EU keine Rolle. Russland wird sich auch einer Teilnahme von NATO-Mitgliedländern als Garantiemächte für die zukünftige Sicherheit der Ukraine oder Peacekeeper widersetzen. NATO und EU werden sicherlich an Einfluss verlieren, nicht nur in der Ukraine. Kaum jemand wird jetzt mit Verlierern zusammenarbeiten wollen.
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