engel vom zürcher hauptbahnhof
die alte faltet ihre sorgen
unter dem kopftuch
zusammen, dort im versteckten:
wo sind ihre zimmer?
wo die kinder?
sie hält sich fest
an ihrem ganzen hab & gut
im rollstuhl, während züge
ankommen & abfahren
durch die jahrzehnte
steht sie beim ticketautomaten,
den rücken gebeugt.
man erzählt,
sie warte noch immer
auf die rückkehr
des verlobten aus dem krieg.
man erzählt, sie segne
die menschen,
die kommen, die gehen.
man nennt sie
den engel vom bahnhof.
einmal frage ich höflich.
sie sieht an mir vorbei
antwortet leise nur: sie wissen doch,
was ich hier mache. sie sagt:
es tut mir leid, aber
ich habe keine zeit
zum reden.
sie hat auch nur dieses eine leben.
hier neben dem gleis, wo ich dann warte,
pickt eine taube brotkrümel vom boden auf.
dort ein japanischer tourist, hundertmal
knipst er den bunten schutzengel
von nikki de saint-phalle,
der in der bahnhofshalle schwebt,
mit goldenen flügeln,
hoch über den köpfen der reisenden.
später, als ich einsteige in meinen zug,
hebt der engel vielleicht,
wie zum zögernden winken, die hand
hinter mir - doch keine geste
wird die bewegung aufnehmen,
die hand versinkt
im ungewissen.
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